Die Einzigartigkeit ihrer Überlieferung

Ein Buch, das millionenfach aufgelegt und verbreitet wird, läuft natürlich nicht so schnell Gefahr, verloren zu gehen. Aber so war es nicht immer. Ursprünglich wurde die Bibel auf einem Material geschrieben, das leicht verderben konnte. Daher musste sie während der Jahrhunderte mit der Hand abgeschrieben werden, bis die Buchdruckkunst erfunden wurde. Verglichen mit anderen antiken Werken sind von der Bibel jedoch viel mehr Handschriften bewahrt geblieben als von zehn willkürlich zum Vergleich herangezogenen klassischen Werken zusammen.

Für ein klassisches Werk sind einige Dutzend Handschriften schon erstaunlich viel. Und die sind dann gewöhnlich mindestens tausend Jahre jünger als die ursprüngliche Schrift. Aber allein vom Neuen Testament kennen wir nicht weniger als 4.000 griechische Handschriften, dazu 13.000 Handschriften von Teilen des Neuen Testaments und daneben noch etwa 9.000 Handschriften von antiken Übersetzungen des Neuen Testaments (hauptsächlich lateinisch). Hinzu kommen noch die Handschriften des Alten Testaments. Vom Alten Testament gibt es zwar weniger Handschriften, doch sind diese umso sorgfältiger aufbewahrt worden. Die alten Rabbiner hatten Register aller Buchstaben, Silben, Wörter und Zeilen des Alten Testaments. Doch wer zählte jemals die Buchstaben und Silben von Homer oder Tacitus?

Die Genauigkeit des Bibeltextes ist so überwältigend gross, dass beispielsweise der Text von Shakespeare (der erst einige hundert Jahre alt ist) bedeutend ungenauer und "korrupter" (d.h. unsicherer, verstümmelter) ist als der des Neuen Testaments, das bekanntlich schon etwa 1950 Jahre existiert, davon 1400 Jahre in Manuskriptform. Im ganzen Neuen Testament gibt es nur etwa zehn bis zwanzig Verse, von denen man nicht ganz sicher ist, wie sie richtig lauten. Keiner davon enthält eine für den Glauben wesentliche Aussage. In den viel jüngeren Texten Shakespeares hingegen kommen mindestens hundert Stellen vor, über die Uneinigkeit besteht; in vielen Fällen handelt es sich dabei um bedeutsame Aussagen.


Aber die Bibel ist nicht nur einzigartig, was ihre Überlieferung durch die (buchdrucklosen) Zeiten hindurch betrifft, sondern auch, was ihr Überleben trotz vieler heftiger Verfolgungen angeht. Seit Jahrhunderten versuchen Menschen, die Bibel zu vernichten und zu verbrennen. Könige und Kaiser, aber auch religiöse Führer haben sich mit fanatischem Eifer dafür eingesetzt.

Der römische Kaiser Diokletian erliess zum Beispiel im Jahr 303 n.Chr. den Erlass, alle Christen und ihr heiliges Buch zu vernichten. Es wurde der grösste Angriff auf die Bibel in der Geschichte: Hunderttausende Christen wurden getötet und fast alle Bibel-Handschriften wurden vernichtet. Dennoch erschien die Bibel schon sehr schnell wieder, und die Ironie der Geschichte war, dass schon 22 Jahre später die Bibel von Kaiser Konstantin auf dem Konzil von Nicäa zur unfehlbaren Autorität erhoben wurde. Ausserdem gab er Eusebius den Auftrag, fünfzig Kopien der Bibel auf Kosten der römischen Regierung anfertigen zu lassen. Solche Wendungen hat es immer wieder gegeben.

Der berühmte französische Rationalist Voltaire, der 1778 starb, behauptete, dass die Bibel innerhalb von hundert Jahren nur noch als Antiquität zu finden sein werde. Aber nur fünfzig Jahre nach seinem Tod gebrauchte die Genfer Bibelgesellschaft sein Haus und seine Druckerpresse, um dort Bibeln zu drucken. Aber ein Werk von Voltaire zu kaufen, dürfte heute nicht ganz einfach sein....

Dem Römischen Reich folgte das Mittelalter. Die katholische Kirche enthielt dem Volk die Bibel so sehr vor, dass jahrhundertelang die Bibel praktisch unbekannt war. Sogar Martin Luther war, wie er sagte, schon erwachsen, ehe er überhaupt eine Bibel zu Gesicht bekam. Aufgrund der Konzilsbeschlüsse und päpstlicher Bannflüche wurden Bibelübersetzungen in die Landessprachen öffentlich verbrannt und Bibelleser von der Inquisition verurteilt, gefoltert und verbrannt. Das änderte sich erst langsam nach der Reformation.

Aber danach entstand, gerade im Schosse des Protestantismus, eine Reihe neuer Attacken besonderer Art: die Angriffe der sogenannten "Bibelkritik". Vor allem in Deutschland kam ein ganzes Heer von Rationalisten und Pseudo-Theologen auf, die sich die heftigsten Angriffe auf die Bibel ausdachten. Dennoch wurde die Bibel seither mehr verbreitet, mehr gelesen und mehr geliebt als je zuvor.

Die Angreifer sind gestorben, ihre Kritik ist längst widerlegt, doch die Bibel steht immer noch wie ein Felsen.

Welches Buch ist damit vergleichbar?


Die Bibel ist das meistgeliebte Buch der Welt. Aber erstaunlich ist, dass sie gleichzeitig das meistgehasste und meistkritisierte Buch der Welt ist. Viele Hämmer sind schon auf ihr entzwei geschlagen und zahllose Grabreden über sie ausgesprochen worden. Kein Kapitel, kein Satz der Bibel ist diesem Gift entkommen: Gibt es ein zweites Buch der Literatur, von dem man das sagen kann? Sicherlich, es gibt zahllose Bücher, die auch gründlich kritisiert wurden. Aber sie sind dann auch für immer in Vergessenheit geraten.

Doch die Zeit der heftigsten Bibelkritik ist gleichzeitig auch die Zeit der spektakulärsten Bibelverbreitung geworden. Die Bibel ist auch darin einzigartig.